Die Frostmann-Sage Teil 6.2: Zwischen Schatten und Licht
War es das gewesen mit Eirik?
Eirik fühlte sich schwer wie Stein. Der Wind rauschte durch die Blätter, sein Klang erinnerte an das Flüstern ferner Stimmen. Das Zwitschern der Vögel mischte sich mit dem Knacken der Äste, während der uralte Wald langsam erwachte. Die warme Sonne legte sich sanft auf seine Haut – so vertraut, so lebendig.
Er öffnete die Augen.
Über ihm wölbte sich der Himmel, ein makelloses Blau, durchbrochen von goldenen Lichtstrahlen, die durch das dichte Blätterdach drangen. Die gewaltigen Kronen der Bäume wiegten sich träge im Wind.
Sonne? Bäume? Hier, im Finsterkamm?
Eirik richtete sich auf, Verwirrung in seinen Zügen. Er hatte einen kalten, felsigen Gebirgspass erwartet, doch nun lag er auf weichem Waldboden. Samtiges Moos zog sich über die Steine, an den mächtigen Wurzeln der uralten Eichen spross saftiges Grün. Er fuhr mit den Fingern darüber, spürte die feuchte Erde zwischen ihnen – es fühlte sich real an. Und doch …
Ein Traum. Es musste ein Traum sein.
Aber wenn dem so war – warum war alles so lebendig? Kein Schmerz durchzuckte seinen Körper, keine Wunde schmerzte. Er stand auf, spürte die Kraft in seinen Gliedern und sog die würzige Waldluft ein. Dann dämmerte es ihm.
Dieser Ort …
Er kannte diesen Wald. Mehr noch – er kannte ihn in- und auswendig.
Plötzlich riss ihn eine Stimme aus den Gedanken.
„Eirik! Eiriiiiiik! Wo bist du?“
Eirik erstarrte.
Ein Junge rannte auf ihn zu – ungestüm, mit wildem Haar und funkelnden Augen. Doch es war nicht irgendwer. Es war Asgrim.
Nicht der bärtige Hüne, nicht der zähe Schmied, sondern der kleine Asgrim – so wie damals, in Kindertagen.
„Asgrim!“ rief Eirik, seine Stimme klang fremd in seinen Ohren. Doch Asgrim reagierte nicht. Sein Blick glitt durch ihn hindurch, als wäre Eirik nichts weiter als Nebel.
„Ich bin hier!“
Ein Echo antwortete ihm. Doch es kam nicht aus seinem Mund.
Eirik fuhr herum – und erstarrte.
Da saß er. Sein jüngeres Ich, ein schelmisches Grinsen auf den Lippen. Unbekümmert, auf einem umgestürzten Baumstamm sitzend, warf er kleine Steine auf die umstehenden Bäume.
Asgrim lief direkt durch Eirik hindurch, als wäre er Luft.
Da wusste er es.
Es war vorbei. Sein Ende war gekommen, irgendwo auf einem kalten Gebirgspass, in einer anderen Zeit, einer anderen Welt.
„Vater und Mutter haben dir doch gesagt, dass du nicht allein in den Wald gehen sollst! Es ist verboten!“ schnaubte der junge Asgrim verärgert.
„Jaja, ich weiß schon …“ murrte der kleine Eirik und verzog das Gesicht. „Eirik tu das nicht, Eirik tu dies nicht, Eirik lass das sein … ich mach ja schon, was du sagst.“
Asgrim seufzte, dann nahm er seinen kleinen Bruder bei der Hand und führte ihn zurück ins Dorf.
Eirik folgte ihnen, getrieben von einer seltsamen Mischung aus Nostalgie und Beklommenheit. Als sie den Waldrand erreichten, stockte ihm der Atem.
„Frostholm?! Ich bin zu Hause!“
Freude durchzuckte ihn – nur um augenblicklich von einer Welle tiefer Traurigkeit fortgespült zu werden.
„Mutter? Vater? Onkel!“ rief er, doch niemand hörte ihn.
Tränen brannten in seinen Augen. So viele Jahre waren vergangen. So lange war es her, dass er ihre Stimmen gehört, ihre Wärme gespürt hatte.
„Eirik Halvardson!“ Die donnernde Stimme seines Vaters riss ihn aus der Starre. „Wie oft haben deine Mutter und ich dir gesagt, dass du dich vom Wald fernhalten sollst! Was sollen wir nur mit dir anstellen? Was wäre, wenn dir etwas passiert? Deine Mutter war krank vor Sorge! Du solltest dich schämen!“
Der kleine Eirik senkte den Kopf, Tränen schimmerten in seinen Augenwinkeln.
Jetzt, als erwachsener Mann – oder vielmehr als Geist, gefangen in einer Erinnerung – verstand Eirik, dass seine Eltern ihn nicht gängeln wollten. Sie wussten um die Gefahren des Waldes, doch als Kind hatte er diese Warnungen nicht verstanden.
Seine Mutter nahm ihre Söhne sanft bei der Hand und führte sie durchs Dorf. Eirik erkannte sofort, wohin sie ging.
Die alte Hütte der Familie.
Dort hatte seine Mutter Asgrim in der Heilkunst unterrichtet, so wie ihre eigene Mutter Gudrun sie einst gelehrt hatte. Sie war die beste Heilerin der Gegend gewesen.
Als Eirik ihnen folgen wollte, blieben sein Vater und sein Onkel stehen. Ihre Stimmen waren leise, doch er hörte jedes Wort.
„Der Junge macht nur Ärger und ist zu nichts zu gebrauchen!“ knurrte Onkel Torvald. „Gib ihn mir in die Schmiede. Ich werde ihn formen wie ein heißes Stück Eisen – und wenn er sich nicht fügt, mache ich ihm Feuer unter dem Hintern!“
Eirik fühlte sich, als hätte man ihm einen Dolch ins Herz gestoßen.
Doch sein Vater fuhr wütend auf: „Torvald Vidarson! Wähle deine Worte mit Bedacht, wenn du über meine Söhne sprichst! Auch du warst vor vielen Wintern ein Kind – und wenn ich mich recht entsinne, ein echter Freigeist! Hast du das etwa vergessen?“
Eirik atmete tief durch. Ein warmer Stich der Erleichterung durchfuhr ihn. Sein Vater hatte ihn verteidigt. Immer.
Als er weiterging, hörte er, wie die Dorfbewohner über ihn sprachen.
Eirik der Ausreißer.
Eirik der Störenfried.
Der Junge, der sich an seinem Bruder ein Beispiel nehmen sollte.
Er schluckte schwer. Hatten sie damals wirklich so über ihn hergezogen? Er hatte sie immer für freundlich gehalten. Doch nun erkannte er die Wahrheit hinter ihren lächelnden Gesichtern.
Schließlich erreichte er die Hütte. Er wagte es nicht einzutreten.
Drinnen hörte er die sanfte Stimme seiner Mutter:
„Eirik, mein Schatz. Warum musst du nur immer weglaufen? Dort draußen gibt es nichts, was ein Junge deines Alters finden sollte. Später wirst du noch genug Zeit haben, die Welt zu bereisen. Aber bis dahin – bleib hier. Bleib bei deiner Familie.“
Asgrim stand daneben, die Arme verschränkt.
Kaum hatte Mutter das Haus verlassen, packte Asgrim seinen kleinen Bruder am Arm. „Werde endlich erwachsen!“ fuhr er ihn an. „Dein Verhalten wird irgendwann noch ein böses Ende nehmen!“
Eirik trat vom Fenster zurück. Wie oft hatte er diese Worte gehört? Über all die Jahre?
Er wusste, was nun geschehen würde.
Der kleine Eirik wartete, bis Asgrim sich abwandte – dann schlüpfte er aus dem Fenster. Leise wie ein Schatten huschte er davon, in Richtung Wald.
Eirik konnte nur zusehen. Er wusste genau, welcher Tag das war. Er wusste, was geschehen würde.
Sein Herz wurde schwer.
Er rannte seinem jüngeren Ich hinterher.
Der Junge sprang unbeschwert zwischen den Bäumen umher, lachte, spielte mit Ästen und Steinen. Doch er ahnte nicht, dass in den Schatten bereits jemand lauerte.
Und dann –
„Was haben wir denn hier? Du kommst jetzt mit mir!“
Eine raue, grausame Stimme durchschnitt die Stille.
Eirik erstarrte.
Eine dunkle Gestalt trat aus dem Dickicht. Ein Mann in abgewetzter Lederrüstung, mit einem Helm, der sein Gesicht verbarg.
Er griff zu.
Eirik wollte schreien, wollte fliehen – doch noch bevor er sich bewegen konnte, stürzte eine zweite Gestalt aus dem Unterholz.
„LASS MEINEN SOHN LOS, DU FEIGLING!“
Es war sein Vater.
Die Schreie hallten durch den Wald, ein Echo, das sich zwischen den hohen Stämmen verlor und die Stille der Natur durchbrach. Dann bewegte sich etwas im Unterholz—zwei weitere Gestalten traten aus den Büschen, düstere Männer mit grimmigen Mienen, die ihre Waffen bereithielten. Sie gehörten zu jenem Krieger, dessen Klinge bereits bedrohlich in der Sonne glänzte.
Halvard stellte sich breitbeinig vor seinen Sohn, die schwere Axt in den Händen. Seine Haltung war entschlossen, sein Blick loderte wie ein Feuer, das sich nicht so leicht ersticken ließ. Er erinnerte Eirik an Asgrim—an jenen Moment auf dem Finsterkamm, als sein Bruder sich mit derselben Entschlossenheit gegen die Schatten stellte, um ihn zu schützen.
Ein wilder Kampf entbrannte. Holzfälleraxt gegen Klinge, ein Tanz aus Stahl und Blut. Eirik konnte nur hilflos zusehen, wie sein Vater einen der Angreifer mit einem wütenden Schlag niederstreckte, das Holz der Axt knirschend gegen Knochen prallte. Doch dann geschah es—der Moment, den Eirik so tief in seinen Erinnerungen vergraben hatte, dass er glaubte, ihn nie wieder fühlen zu müssen.
Der Krieger mit der zerschlagenen Rüstung holte aus, und die Klinge durchstieß Halvards Brust. Augenblicklich erstarrte sein Körper, ein heiseres Keuchen entwich seinen Lippen. Sein Blick weitete sich, doch noch bevor er zu Boden sank, wusste Eirik, dass sein Vater diesen Kampf nicht überleben würde.
Der kleine Eirik stand wie versteinert. Sein Vater lag vor ihm, leblos, besiegt, und alles nur wegen ihm. Wegen seiner Unvernunft.
Doch es war noch nicht vorbei.
Der Krieger wandte sich nun ihm zu, langsam, genüsslich, als wolle er jeden Augenblick auskosten. Blut tropfte von seiner Klinge, ein verzerrtes Lächeln verbarg sich unter dem dunklen Visier seines Helms. Der Junge stolperte rückwärts, sein Herz hämmerte in seiner Brust.
Dann erklang ein Schrei, so durchdringend, dass selbst die Vögel aus den Bäumen aufflatterten.
„EIRIK!“
Seine Mutter.
Sigrid stürzte sich auf den Mörder ihres Mannes, ein langes Messer in der Hand. Ihr Gesicht war eine Maske aus Wut und Entschlossenheit, ihre Bewegungen schnell wie der Wind. Klinge klirrte auf Klinge, ein tödlicher Tanz entfaltete sich vor Eiriks Augen.
„Lauf weg!“ rief sie ihm zu, doch seine Beine gehorchten nicht.
Er presste sich hinter einen Baum, hörte den Kampf, hörte den Aufprall von Fäusten, das scharfe Singen der Waffen, das Stöhnen vor Schmerz. Dann ein letzter, gellender Schrei.
Dann Stille.
Eirik wagte es kaum zu atmen. Doch er wusste es. Er wusste, was geschehen war.
Sein jüngeres Ich stolperte aus seinem Versteck, seine blauen Augen voller Panik.
„MUTTER!“
Sigrid lag im Gras, der warme Sommerwind spielte mit ihren Haaren. Ihr Atem war flach, Blut sickerte aus der Wunde in ihrer Seite. Ihre Hand zitterte, als sie nach der seines jüngeren Selbst griff.
„Es wird alles gut, mein Junge,“ hauchte sie mit letzter Kraft. „Halte dich an deinen Bruder… und nimm diesen Helm.“
Mit schwachen Fingern schob sie ihm den Helm des Angreifers entgegen—den Helm, den Eirik bis zum heutigen Tage nicht abgelegt hatte.
„Er soll dich daran erinnern, dass du stark sein musst. Wer ein Held sein will, muss Opfer bringen… aber vergiss niemals, wo du herkommst, Eirik Halvardson.“
Dann war sie fort.
Eirik stand wie erstarrt, der Schmerz und die Wut seiner Kindheit brachen wie eine gewaltige Flutwelle über ihn herein. Er wollte schreien, wollte etwas tun, doch es war zu spät.
Dann hörte er Schritte.
Torvald. Dorfbewohner. Zu spät. Viel zu spät.
Sigrid und Halvard waren tot, erschlagen von Fremden. Und das Dorf wusste, wer daran schuld war.
„Wir haben es immer gesagt! Der Junge bringt nur Ärger!“ rief einer der Männer wütend. „Jetzt hat er auch noch seine Eltern auf dem Gewissen!“
Torvald drehte sich um, sein Gesicht war hart wie Granit, gezeichnet von Trauer und Zorn. Wortlos zog er den kleinen Eirik in seine Arme, hielt ihn fest.
„Der Junge hat genug durchgemacht,“ knurrte er düster. „Verschwinde, bevor ich dich am Amboss ausrichte wie eine krumme Klinge!“
Auch Asgrim trat schützend vor seinen Bruder, sein Blick brannte wie Glut.
Eirik, der die ganze Szene von außen betrachtete, spürte, wie sich die Dunkelheit um ihn legte. Alles wurde schwarz.
So wie auf dem Norrn-Stieg.
Als er wieder zu sich kam, stand er in der alten Schmiede seines Onkels.
Zeit war vergangen. Der kleine Asgrim existierte nicht mehr—vor ihm stand ein Mann, größer als er selbst, sein Gesicht von Ruß und Schweiß gezeichnet, ein dichter Bart in seinen Zügen.
„Sag mal, wo ist eigentlich dein nichtsnutziger Bruder?“ murrte Torvald.
„Wird wie immer durchs Dorf rennen und Geschichten erzählen…“ brummte Asgrim zurück.
Dann kam ein Satz, der Eirik den Boden unter den Füßen entriss.
„Wären Sigrid und Halvard nicht in den Wald gegangen… die beiden haben das nicht verdient… Ich würde sie sofort eintauschen gegen… ach, egal.“
Eirik spürte, wie etwas in ihm zerbrach.
„Das geht zu weit!“ knurrte Asgrim, seine Stimme war fest wie Stahl. „Ich vermisse sie auch jeden Tag, wenn ich in die leere Hütte blicke… aber was geschehen ist, lässt sich nicht mehr ändern.“
Schweigen.
Nur das Knacken der Glut in der Esse füllte den Raum.
Torvald schüttelte den Kopf, rieb sich über das Gesicht, seine Züge weich, doch voller Bedauern.
„Ich habe es nicht so gemeint,“ murmelte er schließlich. „Ich bin froh, dass der Junge den Angriff überlebt hat… nur… ich wünschte, er würde Verantwortung übernehmen. Seine Energie für etwas Gutes nutzen. Anstatt allen das Leben schwerzumachen.“
Eirik seufzte.
Er trat ans Fenster, blickte hinaus.
Und dann sah er ihn.
Sein jüngeres Ich, durch die Straßen rennend, lachend, voller Leben.
Wenn man vom Teufel spricht.
Der junge Eirik, inzwischen zwar älter, aber keinen Tag reifer, hetzte durch die engen Gassen Frostholms in Richtung Schmiede. Allein sein Anblick ließ nichts Gutes erahnen.
Seine Kleidung hing in Fetzen, kaum mehr als Lumpen, die seinem verbeulten Helm in nichts nachstanden. Seit jenem Tag im Wald hatte er ihn nicht mehr abgenommen.
„Bei den Zwölfen! Wie siehst du denn aus? Mit wem hast du dich diesmal angelegt?!“ polterte Torvald, als Eirik in die Schmiede gestürmt kam.
„Mir ist nichts passiert, ihr solltet mal die anderen sehen!“ prahlte er mit einem breiten Grinsen.
Asgrim verdrehte die Augen. „Und welche Geschichte willst du uns diesmal auftischen?“ fragte er spöttisch.
„Das ist keine Geschichte! Da war so ein reicher Kerl mit seinen Handlangern auf dem Weg vor dem Dorf. Er fragte nach dem richtigen Pfad, und ich sagte ihm, er solle bei den Büschen rechts abbiegen. Tja, und der Trottel hat’s gemacht.“
Asgrim runzelte die Stirn. „Aber da liegt doch der alte, modrige Teich?“
„Ganz genau!“ Eirik lachte lauthals. „Ihr hättet sein Gesicht sehen sollen, als er mit einem großen Plumps im Brackwasser verschwand!“
Torvald riss die Arme hoch. „Das ist doch Wahnsinn!“
„Danke!“ strahlte Eirik, unfähig zu begreifen, dass sein Onkel nicht im Geringsten beeindruckt war.
„Und was hast du uns damit wieder eingebrockt? Und deine Kleidung – was ist damit passiert?“ fragte Asgrim misstrauisch.
Eirik zuppelte etwas verlegen an seinem Ärmel. „Die Handlanger wollten mich packen, aber ich war schneller. Ihr hättet ihre Gesichter sehen sollen, als ich ins Dorf geflüchtet bin – bei Swafnir, haben die doof geschaut!“
Torvald stieß einen tiefen Seufzer aus und wandte sich wortlos der Esse zu. „Sie haben gesehen, wo du hingelaufen bist?“ murmelte er. „Dann kann ich dir Ärger garantieren.“
Eirik, der die Szene mit wachsender Beklommenheit beobachtete, fühlte, wie ihm schwarz vor Augen wurde. Ein weiteres Mal sackte er zusammen.
Ein Schaben erklang, dann dumpfe Schläge auf Metall, begleitet vom Fauchen der Flammen.
Eirik öffnete die Augen. Vor ihm lag die vertraute Szene der Schmiede: Sein jüngeres Ich fegte Kohlen zusammen, während Asgrim am Amboss letzte Feinheiten an einem gewaltigen Zweihandhammer ausarbeitete. Torvald stand an der Esse, schaufelte mit bedächtigen Bewegungen neue Kohlen nach.
Es war einige Monate nach dem Vorfall, den er zuletzt sah.
„Onkel hatte immer viel zu tun. Er war ein fähiger Schmied und ein guter Lehrer – was man an Asgrim sehen konnte,“ dachte Eirik voller Wehmut.
Er wusste, welcher Tag dies war. Und er wusste, was noch kommen würde.
Asgrim wischte den fertigen Hammer ab, stolz darauf, seinem Onkel sein Werk zu präsentieren. Doch dann hallten Schreie durch die Gassen Frostholms.
„Wir suchen einen jungen Tunichtgut mit einem verbeulten Helm!“
Eirik zuckte zusammen. Torvald eilte zur Tür, um nach draußen zu sehen.
Die Dorfbewohner deuteten auf die Schmiede. Ein Mann in vornehmer Kleidung saß hoch zu Ross, flankiert von vier Söldnern. Ihr Ziel war klar – sie kamen direkt auf die Schmiede zu.
Eirik spähte vorsichtig hinaus und erstarrte. Mit klopfendem Herzen zog er sich zurück. „Ouh Mist, das ist dieser hochnäsige Tümpeltaucher! Lenkt ihn ab, ich mach mich aus dem Staub!“ raunte er.
Doch ehe er sich davonstehlen konnte, packte ihn eine starke Hand am Kragen.
„Du bleibst hier!“ knurrte Torvald. „Du hast uns das eingebrockt, also löffelst du es diesmal selbst aus.“
Eirik warf einen flehenden Blick zu seinem Bruder. Doch Asgrim blieb reglos.
Bevor er sich versah, wurde er vor die Tür gezerrt.
„Den Zwölfen zum Gruße, Reisende! Was kann ich für euch tun?“ begrüßte Torvald die Fremden, bemüht um eine friedliche Lösung.
Der Reiter musterte ihn mit kaltem Blick. „Ich will den Kopf dieses Taugenichts! Übergebt ihn mir, und ihr bleibt verschont.“
Eirik schluckte schwer und sah seinen Onkel an. Doch Torvald rührte sich nicht, seine Miene war aus Eisen geschmiedet.
„Dann müsst ihr an mir vorbei,“ sprach er ruhig, aber mit unerschütterlicher Entschlossenheit. „Ich gab ein Versprechen – die Jungen mit meinem Leben zu schützen. Und daran werde ich mich halten.“
Leise, kaum hörbar, flüsterte er seinem Neffen zu: „Geh in die Schmiede und verriegle die Tür. Ich komme gleich nach, wenn alles vorbei ist.“
Seine Stimme klang anders als sonst. Liebevoll, aber auch endgültig.
Eirik sah zu, wie sein jüngeres Ich aufsprang und in die Schmiede zu Asgrim stürzte. Ohne zu zögern, raffte sein Bruder alles zusammen, was er greifen konnte, und stellte es vor die Tür. Er wusste genau, was Onkel Torvald vorhatte – als hätten sie eine solche Situation schon einmal durchgespielt.
Draußen zogen die Söldner ihre Waffen und stürmten auf den alten Schmied zu. Doch sie hatten ihn unterschätzt. Der Erste von ihnen bekam den Schmiedehammer zu spüren – ein gezielter Schlag, ein markerschütterndes Knacken, und er sackte mit gebrochenem Kiefer zu Boden.
Ein wildes Gefecht entbrannte in den sonst so friedlichen Straßen Frostholms.
Torvald kämpfte mit der Kraft eines Mannes, der nichts mehr zu verlieren hatte. Einer nach dem anderen fiel, bis nur noch der Anführer im Sattel seines Pferdes saß. Schwer atmend trat der Schmied über die reglosen Körper der Söldner hinweg und brüllte:
„Verschwindet aus meinem Dorf und kehrt nie wieder zurück!“
Der Reiter zügelte sein Pferd, drehte sich mit einem hasserfüllten Blick um und rief:
„Ich werde wiederkommen! Und das nächste Mal werdet ihr nicht so leicht mit dem Leben davonkommen!“
Torvald ließ seinen Hammer sinken. Es war vorbei. Er hatte die Jungen gerettet.
Doch als er sich umwandte, durchzuckte ihn ein brennender Schmerz.
Einer der Söldner, blutüberströmt und am Rande des Todes, hatte in seinen letzten Atemzügen zum Speer gegriffen – und ihn in Torvalds Bauch gerammt.
Hinter der verriegelten Tür der Schmiede konnten Asgrim und Eirik nur zusehen. Unfähig einzugreifen, brach der ältere Bruder mit einem Schrei der Verzweiflung zusammen, während dem jungen Eirik heiße Tränen über die Wangen liefen.
Die Tür flog auf. Sie rannten zu ihrem Onkel.
Seine Atmung war flach. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor. Doch seine Augen waren klar, als er zu ihnen sprach.
„Ihr müsst fliehen… Er wird wiederkommen…“ flüsterte er mit letzter Kraft.
Er packte Asgrims Arm. „Du weißt, was zu tun ist. Leichtes Gepäck. Und versprich mir… dass du gut auf deinen Bruder aufpasst.“
Asgrim nickte stumm, sprang auf und rannte los.
Eirik blieb. Er hielt Torvalds Hand, die langsam kälter wurde.
„Es tut mir leid, Onkel… Ich wollte das nicht… Ich wollte das alles nicht…“
Torvald lächelte schwach. „Wir waren doch alle mal jung… und hatten unsere Flausen im Kopf…“ Er drückte Eiriks Hand ein letztes Mal. „Halte dich an deinen Bruder. Er braucht dich jetzt… und du ihn. Macht mich stolz…“
Ein letzter Atemzug.
Sein Kopf sank in den Staub.
Eirik konnte nicht länger hinsehen. Er sprang auf und rannte seinem Bruder hinterher.
Asgrim war bereits in die Schmiede zurückgekehrt, hatte einige Dinge zusammengesucht und war nun im Haus der Familie. Durch das Fenster sah Eirik ihn vor dem Kräuterregal ihrer Mutter stehen. Seine große Hand hielt etwas fest umschlossen.
Als Eirik eintrat, hörte er das leise, raue Schluchzen seines Bruders.
„Ich passe auf ihn auf… versprochen…“
In Asgrims Hand lag das Messer ihrer Mutter. Jenes Messer, mit dem sie Eirik einst vor den Angreifern verteidigt hatte. Das Messer, das Eirik all die Jahre an seinem Gürtel getragen hatte – und er später Gwynwen als Zeichen seiner Schuld übergab.
Eine einzelne Träne rann über Eiriks Wange.
Asgrim verließ das Haus. Er kehrte zurück zur Schmiede, zu seinem Bruder, der noch immer weinend bei Torvald kniete.
Eirik stellte sich hinter sein jüngeres Ich. Und weinte mit ihm.
Doch dann spürte er etwas.
Eine Leere breitete sich in ihm aus. Sein Geist driftete fort.
Er dachte an Asgrim. An seinen großen Bruder, der nun ganz allein war. Niemand war mehr da, um ihn aufzufangen.
Da hörte er eine vertraute Stimme. Eine warme Hand legte sich auf seine Schulter.
Er drehte sich um.
Und sah sie.
Seine Eltern.
Halvard und Sigrid standen vor ihm, unverändert, keinen Tag gealtert.
„Du bist groß geworden, mein Junge!“ Halvard lachte leise. „Aus dir ist ja ein richtiger Mann geworden.“
Sigrid lächelte ihn sanft an.
Eirik war sprachlos.
„Mutter?! Vater?!“ Seine Stimme zitterte. „Wie kann das sein?! Es tut mir so leid… Ich habe euch enttäuscht! Ich wollte das alles nicht! Ich wollte doch nur frei sein… die Leute mit meinen Geschichten und Taten zum Lachen bringen…“
Sigrid legte eine Hand auf seine Wange. „Mach dir keine Vorwürfe, mein Junge. Was geschieht ist vom Schicksal bestimmt. Du weißt nie, welchem höheren Zweck es dient.“
Halvard nickte. „Jede Tat hat ihre Folgen, Eirik. Ziehe deine Lehren daraus. Werde ein besserer Mann.“
„Aber es ist zu spät…“ flüsterte Eirik.
Seine Mutter lächelte. „Es ist nie zu spät für eine zweite Chance. Achte nicht nur auf dich. Achte auf die Anderen.“
Eiriks Mutter erwiderte sein Zittern mit einem sanften Lächeln.
Die Sonne stand tief und versank langsam hinter der mächtigen Schmiede, deren Schatten sich über den Boden legte.
Eine lähmende Kälte kroch in Eiriks Glieder, dieselbe Kälte, die ihn einst auf dem Gebirgspass überkommen hatte. Seine Augen wurden schwer, eine tiefe Müdigkeit legte sich auf ihn.
„Schließ deine Augen, mein Sohn. Alles wird gut.“
Die Stimme seiner Mutter war warm, tröstlich.
Eirik folgte ihren Worten.
Dann umfing ihn die Dunkelheit.
Sein Herz schlug.
Nicht mehr dumpf und müde, sondern kräftig, wie der Donner über dem Meer.
Seine Gedanken, die eben noch in chaotischer Unruhe durch seinen Kopf wirbelten, verstummten.
Absolute Stille!
Doch dann - Licht!
Eirik riss die Augen auf.
Mit unbändiger Wucht durchströmte ihn eine neue Energie, als wäre er in eisiges Wasser getaucht worden. Kalte Luft füllte seine Lungen, sein Herz hämmerte gegen seine Brust.
Er war zurück.
Und da war sie.
Die Silhouette gegen das Licht der Berge.
Gwynwen!
Ihre Hände leuchteten, während sie auf seiner Brust ruhte.
Eirik spürte keinen Schmerz mehr.
Er sog scharf die Luft ein, die Kälte prickelte auf seiner Haut. Verwirrt blickte er sich um, versuchte zu begreifen, was geschehen war.
Vor ihm saß noch immer der Nachtrabe, bis er sich mit einem markerschütternden Schrei in die Lüfte erhob.
Eirik starrte Gwynwen an, noch immer überwältigt von dem, was gerade geschehen war. Seine Lippen formten ein einziges, zittriges Wort:
„Danke…“
Dann, mit einem Schlag, kam die Erinnerung zurück.
Der Kampf!
Asgrim!
Ohne zu zögern sprang Eirik auf. Seine Beine fühlten sich noch wackelig an, doch das hielt ihn nicht auf. Er stolperte los, genau in jene Richtung, aus der die Pfeile ihn getroffen hatten.
Sein Bruder war nicht allein!
Asgrim kämpfte – und Quaz’Ra stand an seiner Seite!
Mitten im Gefecht zuckte Asgrim zusammen, als er plötzlich einen Schrei hörte, einen Schrei, den er nur allzu gut kannte.
Er wirbelte herum und seine Augen weiteten sich ungläubig.
Eirik!
Sein totgeglaubter Bruder stand lebendig inmitten der Schlacht. Neue Kraft durchströmte ihn, als er sich in den Kampf stürzte, Seite an Seite mit den Seinen.
Auch Quaz’Ra zeigte für einen kurzen Moment eine ungewohnte Regung – war es Überraschung?
Doch Eirik dachte nicht nach.
Er entdeckte den Goblin, der ihn verwundet hatte.
Dessen Augen weiteten sich vor Angst.
Der Kampf tobte weiter.
Doch Eirik, noch nicht ganz Herr über seinen zurückgekehrten Körper, hieb mit aller Kraft nach dem Feind – und verfehlte.
Sein Schwert verkeilte sich im Boden.
Wütend ließ er die Klinge los und stürzte sich mit erhobenem Schild auf den Goblin, entschlossen, ihn mit einem Schlag zu Boden zu reißen.
Doch sein Körper war noch nicht bereit.
Das Adrenalin wich aus seinen Adern, die Schwärze kehrte zurück.
Ohne einen weiteren Treffer zu kassieren, brach Eirik erneut zusammen.
Asgrim sah seinen Bruder fallen.
Mit einem Aufschrei trat er vor, der schwere Hammer erhob sich über seinem Kopf.
Der Goblin, noch immer auf Eirik fixiert, bemerkte zu spät, was geschah.
Ein gewaltiger Schlag traf ihn.
Zerschmetterte ihn, zerschlug ihn zu Brei.
Die Bestie erhielt ihre verdiente Strafe.
Die Schlacht war geschlagen, die Feinde gefallen.
Doch was sie als Nächstes herausfinden werden, wird sich noch zeigen…
Wird schwer das nicht zu wissen wen Quaz'Ra wieder am Start ist.