In der Taverne jedoch herrschte Stille. Die schweren Holzbalken knarrten leise, als eine kühle Brise durch die halb geöffneten Fenster schlich, doch die Brüder Frostmann, die in den ersehnten Betten lagen, rührten sich nicht. Der gestrige Kampf lastete noch auf ihren Gliedern, und der bittere Nachhall von Rotangs Schnaps lag schwer auf ihren Zungen. In trägem Halbschlaf wanden sie sich, fern jeder Lust, dem Morgen zu begegnen. Die Welt draußen mochte erwachen, doch für sie konnte der Tag noch warten.
Eirik blinzelte schließlich in das fahle Licht, das durch die verschmierten Fensterscheiben drang. Die Sonnenstrahlen brachen sich in den Staubpartikeln der Luft, tauchten den schlichten Raum in ein warmes, flackerndes Leuchten. Asgrim hingegen hatte sich bereits erhoben. Er saß auf der Bettkante, eine Hand auf seinem Bein ruhend, die andere über das Gesicht streichend – halb wach, halb noch in der Welt der Träume gefangen. Doch ein Thorwaler begann keinen Tag ohne eine ordentliche Mahlzeit.
Als die Beiden den Schankraum der Taverne betraten, fanden sie ihre Gefährten bereits am Tisch versammelt. Der Duft von frisch gebackenem Brot und gebratenem Fleisch hing schwer in der Luft, und die Schalen mit dampfendem Brei versprachen die ersehnte Stärkung. Wortlos ließen sich die Brüder mit gefüllten Tellern nieder, während ihre Ohren den Gesprächen lauschten, die bereits in vollem Gange waren.
Rotang und Grimbald, so hieß es, würden im Dorf verweilen, um der Wolfsplage Herr zu werden. Farnion lag noch immer verletzt bei der Heilerin, und die Beiden wollten sich um seine Genesung kümmern. Mit einem Karren voller Schlachtvieh würden sie gemeinsam mit den Bauern versuchen, die restlichen Wölfe zurück in die Berge zu treiben.
Der Dorfälteste trat schließlich an den Tisch heran und sprach von den Händlern, die im Süden des Dorfes auf die Abenteurer warteten. So machten sie sich auf den Weg.
Hirschquell erwachte zum Leben, als die Gruppe durch die Straßen zog. Doch als sie den südlichen Stadtrand erreichten, lag die ruhige Atmosphäre plötzlich hinter ihnen. Dort, zwischen vereinzelten Bauernhöfen, erstreckte sich ein improvisierter Handelsplatz. Gut gefüllte Karren standen dicht an dicht, bereit für die Reise – doch die Spannung in der Luft war beinahe greifbar.
Jorre Knisterling, jener Händler, mit dem sie bereits nach Hirschquell gereist waren, trat ihnen entgegen. Sein Lächeln war freundlich, doch seine Bewegungen verrieten Ungeduld. Alles war bereit, und offenbar hatte er nicht vor, noch länger zu warten.
So war es beschlossen: Die Abenteurer würden die Händler auf ihrer dreitägigen Reise nach Nordwall begleiten. Doch mehr noch – wenn die Gerüchte des Goblins stimmten, hatte auch der blaue Ork genau diese Richtung eingeschlagen. Ein Umstand, der für Quaz’Ra von höchster Bedeutung war.
Die Reise begann. Holprige Feldwege zogen sich durch das Land, die Karren knarzten unter der Last ihrer Fracht, und über ihnen kreisten Krähen, als warteten sie auf das erste Zeichen von Schwäche. Die Gefährten hielten ihre Sinne geschärft, während das Rattern der Räder den Rhythmus des Marsches bestimmte.
Während Thronde und Gwynwen sich über die Eigenheiten ihrer Kulturen austauschten, fand Eirik endlich den Schlaf, den ihm die quälenden Gedanken der Nacht verwehrt hatten. Das sanfte Wiegen des Wagens, das monotone Klappern des Holzes – es lullte ihn ein, wie die Wellen, die einst sein Heim umspülten.
Als die Nacht über den steinigen Wegen und den dunklen Wäldern hereinbrach, errichteten die Händler mit geübten Handgriffen das Lager. Das Knistern der Feuer, das Rascheln der Decken – all das war ein vertrautes Ritual, eine Routine, die Sicherheit versprach. Gut ausgeruht übernahm Eirik die erste Wache, während die Sterne über den Gipfeln erwachten. Später weckte er Asgrim, der mit grimmigem Brummen übernahm, und in den frühen Morgenstunden stand auch Thronde auf.
Die Tage verstrichen, ohne dass eine Bedrohung auftauchte. Kein Zeichen des blauen Orks, keine Räuber in den Schatten der Bäume. So kam es, dass die Karawane bereits nach zweieinhalb Tagen ihr Ziel erreichte.
Und dann, als der letzte Waldstreifen hinter ihnen lag, sahen sie es.
Nordwall.
Die Stadt war der letzte Stützpunkt vor dem gefürchteten Gebirgspass. Doch anstatt geschäftigem Treiben lag eine eigentümliche Beklemmung über den Straßen. Wo sonst Händler lautstark ihre Waren anpriesen, klafften nun leere Plätze, und in den Gassen flüsterten die Menschen, als fürchteten sie, zu laut zu sprechen.
Gwynwen und Quaz’Ra zogen los, um herauszufinden, was diese bedrückende Stimmung ausgelöst hatte. Die Thorwaler jedoch ließen sich davon nicht abhalten. Mit schnellen Schritten und den hart verdienten Münzen in der Hand suchten sie die nächste Taverne auf, um ebenjene gegen kühles Bier einzutauschen. Ludwig folgte ihnen, nahm ebenfalls an dem leeren Tisch Platz – doch trotz des großzügig fließenden Alkohols ließ sich aus ihm nichts herauslocken.
Dann, als der Wind durch die Gebirgspässe pfiff, riss er mit einem jähen Stoß die massive Holztür der Taverne auf. Der Achaz und die Elfe traten ein.
Eirik hieß sie mit einem Heben des Kruges willkommen und bestellte eine weitere Runde.
Und bei diesem gemeinsamen Trunk brachten sie endlich Licht ins Dunkel.
Der Gebirgspfad – der einzige Weg über den Finsterkamm – war belagert. Eine Gruppe Oger hatte ihn seit Wochen in ihrer Gewalt. Kein Händler kam mehr durch, die Stadt war in ihrer eigenen Verzweiflung gefangen.
Die Stadtwachen waren zu wenige, die Soldaten gebunden. Doch für Informationen über die Oger gab es nur eine Adresse: den Hauptmann der Garnison. Und der wartete in der Burg.
Von der Aussicht auf neue Heldentaten beflügelt, sprang Eirik beschwipst auf, leerte seinen Humpen mit einem kräftigen Zug und stieß den hölzernen Krug auf den Tisch. Der dumpfe Aufprall hallte durch die leere Taverne, als er die anderen drängte, sich zu beeilen. Keine Zeit durfte vergeudet werden – der Hauptmann in der Burg musste sofort aufgesucht werden.
Die Gruppe machte sich auf den Weg durch die abendlichen Gassen Nordwalls. Der Wind blies kühl von den Bergen herab und ließ die Fackeln an den Hauswänden flackern. Schatten tanzten auf dem unebenen Pflaster, während das entfernte Klappern einer einsamen Karre die Stille durchbrach. Schließlich erreichten sie das Tor der Burg, wo die Wachen sie bereits erwarteten und in den hallenden Steinbau führten.
In der schweren Dunkelheit des Saals, nur vom schwankenden Licht der Kohlenbecken erhellt, offenbarte der Hauptmann, dass an den Gerüchten wohl mehr dran war, als viele gehofft hatten. Ein Oger herrschte über den Pass, doch nicht allein – zwei Orks und eine Bande von Goblins folgten seinem Kommando. Die Forderungen der Kreaturen waren unmissverständlich: Wer passieren wollte, musste seine Waren hergeben, andernfalls würde der Tribut in Blut gezahlt.
Bei der Erwähnung der Orks versteifte sich Quaz’Ra. Die ruhige Beherrschung, die ihn sonst umgab, schien mit einem Mal zu zerbrechen. Ein unheilvolles Zittern durchlief seinen Körper, während seine gespaltene Zunge über die scharfen Zähne huschte. Er trat näher an den Hauptmann heran, verlangte mehr Informationen.
Doch die Frage nach einem blauen Ork wurde mit Stirnrunzeln quittiert. Ein Blaupelz? Unsinnig, schließlich waren Orks Schwarzpelze. Die Vorstellung eines Orks mit blauem Fell schien ihm abwegig.
Thronde zeigte sich ebenso skeptisch und ließ durchblicken, dass solche Gerüchte bestenfalls auf Aberglauben oder Unwissenheit beruhten. Doch das genügte, um das sonst so kalte Blut des Achaz in Wallung zu bringen.
Eirik hingegen lachte unbekümmert auf. Welche Farbe das Fell eines Orks hatte, war ihm einerlei, solange es für dessen Kopf einen angemessenen Sold gab.
Diese Worte ließen Quaz’Ra endgültig explodieren. Die aufgestaute Wut brach aus ihm hervor wie eine Sturmflut, die gegen brüchige Deiche schlägt. Er beschuldigte die Thorwaler, nur nach Gold und Bier zu streben, nichts weiter als Söldner zu sein, deren Motive auf bloßen Eigennutz beschränkt waren. Dann wandte er sich abrupt ab, stürmte aus dem Saal und ließ die Gruppe in verwirrtem Schweigen zurück.
Die Abenteurer versicherten dem Hauptmann, sich der Bedrohung anzunehmen, und kehrten in die Taverne zurück. Der Weg durch die dunklen Straßen war von eisigem Schweigen erfüllt.
Im Schatten einer Gasse entdeckten sie Quaz’Ra, dessen Augen im Halbdunkel glommen wie zwei glühende Kohlen.
Eirik trat mit energischen Schritten auf ihn zu. Ihm war nicht klar, weshalb die Echse solch eine Wut in sich trug, doch wenn sie am nächsten Tag gemeinsam in den Kampf ziehen sollten, durfte diese Fehde nicht ungelöst bleiben.
Kaum hatte er sich ihm genähert, zischte Quaz’Ra mit scharf gespaltener Zunge und wandte sich ab. Doch der Thorwaler ließ sich nicht beirren. Angetrieben vom Alkohol und der sturköpfigen Natur seines Volkes stapfte er weiter auf den Achaz zu.
Dann ging alles schnell.
Ein leises Rascheln, ein blitzschneller Schatten – Quaz’Ra schlug mit dem Schwanz aus, ein geschmeidiger Hieb, der darauf abzielte, Eiriks Beine unter ihm wegzureißen.
Doch Eirik war kein unachtsamer Trunkenbold. Instinktiv sprang er zur Seite, spürte den Luftzug des Angriffs an sich vorbeihuschen. Doch in diesem Moment kochte seine unbändige Wut in ihm hoch. Die Adern pochten, das Blut rauschte in den Ohren – und dann war da nur noch der Reflex des Kampfes.
Hatte er recht gehabt? Waren die Achaz also doch so verschlagen, wie es die alten Geschichten erzählten?
Wie zwei Raubtiere stürzten sie sich aufeinander, inmitten der stillen Straßen. Der Schatten der Nacht war ihr einziger Zeuge. Schläge wurden ausgetauscht, doch keiner konnte den anderen niederzwingen. Ihre Bewegungen waren wild, doch nicht unüberlegt – Fäuste und Krallen glitten haarscharf an ihrem Ziel vorbei.
Ludwig und Thronde standen abseits, schienen nicht gewillt, sich in diesen Zwist einzumischen. Doch Asgrim und Gwynwen griffen ein.
Die Elfe schnellte mit anmutiger Geschwindigkeit zwischen die Kämpfenden, während Asgrim mit seinen mächtigen Händen versuchte, seinen Bruder zu fassen. Doch Eirik, geblendet von seinem Rausch aus Wut und Adrenalin, schleuderte ihn mit einem ungestümen Stoß zur Seite. Der Hüne taumelte, prallte hart gegen eine steinerne Mauer und blieb dort für einen Moment benommen stehen.
Quaz’Ra hingegen, der sich ebenfalls nicht beruhigen konnte, stieß in seinem Zorn die Elfe zu Boden.
Doch noch während er Gwynwen so daliegen sah, mit aufgerissenen Augen und atemlos vor Schreck, erstarrte er. Die Wut, die ihn wie ein Feuer verzehrt hatte, schien plötzlich aus zu flackern.
Dieser Moment der Unachtsamkeit reichte aus.
Eirik holte aus und ließ einen wuchtigen Hieb gegen das Gesicht des Achaz krachen. Das Schuppenwerk verzog sich unter der Wucht.
Mit stolzer Brust wandte sich der junge Thorwaler ab, suchte mit glänzenden Augen die Blicke seiner Gefährten – suchte Zustimmung, suchte den Beweis, dass seine Tat gerechtfertigt war. Doch was er fand, waren nur Asgrims enttäuschtes Schweigen und Thronde, der langsam den Kopf schüttelte.
Ohne ein weiteres Wort verließen die Thorwaler den Schauplatz, betraten die Taverne und setzten sich an einen der leeren Tische. Das flackernde Kaminfeuer warf unruhige Schatten auf die Holzdielen, doch die Atmosphäre war kälter als der Wind draußen vor der Tür.
Asgrim strafte seinen Bruder mit völliger Stille. Keine tadelnden Worte, kein Tadel in der Miene – nur eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen.
Später kehrten auch Gwynwen, Quaz’Ra und Ludwig zurück. Die Elfe wirkte noch sichtlich erschüttert, Quaz’Ra beschämt.
Schuldgefühle stachen Eirik ins Herz. Als stumme Friedensgeste wies er den Wirt an, ihren Tisch mit Getränken zu versorgen.
Doch die Stille blieb, zäh wie kalter Honig.
Dann wurde sie von schweren Stiefeln unterbrochen. Die Tür der Taverne schwang auf, Kälte und Stimmen drangen herein. Die Händler traten ein, allen voran Jorre, der mit ernstem Gesicht auf die Abenteurer zutrat.
Die Zeit für Streit war vorbei. Die Karawane würde am nächsten Morgen aufbrechen, der Gebirgspass wartete – und mit ihm die Kreaturen, die ihn belagerten.
Schicksal lag in der Luft, als die Krüge erneut gehoben wurden. Doch Eirik wusste: Ein Humpen Bier würde nicht ausreichen, um den Graben zwischen ihnen zu schließen.
Das Feuer knackte, und draußen vor den Fenstern fiel lautlos der Schnee. Die Gespräche waren verebbt, nur das Knistern des Feuers und das leise Klirren der leeren Humpen füllten den Raum. Eirik starrte auf die Tischplatte, während die Gedanken an den Streit noch in seinem Kopf nachhallten.
Dann flog die Tür mit einem Knall auf, der Wind trug nicht nur Schneeflocken mit sich. Zwei vertraute Gestalten traten aus der Dunkelheit ins flackernde Licht – erschöpft, und viel früher zurück, als irgendjemand es erwartet hätte…