Die Suche nach dem verschwundenen Kind
Am nächsten Morgen erwachten die Helden im Schein der strahlenden Sonne. Der Nebel des vergangenen Abends hatte sich verzogen, und das Dorf lag friedlich in der kühlen Morgenluft. Doch die Worte der verzweifelten Mutter hallten noch in Throndes Gedanken nach, ließen ihm keine Ruhe.
Auch Asgrim erhob sich früh und fand sich mit Thronde in der Taverne ein, wo der Duft von gebratenem Speck und frisch gebackenem Brot die Luft erfüllte. Während sie sich stärkten, entwarfen sie einen Plan, um das verschwundene Kind aufzuspüren.
Eirik, dem der vorangegangene Abend noch in den Knochen steckte, verweilte länger in seinem Bett, bis sein Magen ihn letztlich nach unten trieb. Mit schwerem Kopf und noch immer schwankendem Gleichgewicht setzte er sich zu den Anderen und lauschte ausnahmsweise schweigend ihren Worten.
Gestärkt und entschlossen machten sich die drei Thorwaler erneut auf den Weg zur Schmiede, in der Hoffnung, dort Spuren des Kindes zu finden.
Doch nichts war geblieben als die Überreste der monströsen Spinne, die sie am Vorabend erlegt hatten.
Throndes Erinnerung an die Worte der Mutter brachte sie auf eine neue Spur: der Fluss.
Der Weg zum Wasser führte sie durch das Dorf, vorbei an den Häusern der Bewohner.
Am Flussufer trafen sie auf eine Wäscherin, die mit schrundigen Händen Tücher ins kühle Wasser tauchte. Sie verwies sie auf eine alte Frau, die am Rand des Dorfes lebte – eine Greisin, deren scharfer Blick selbst die kleinsten Veränderungen bemerkte.
Die Häuser wurden rarer, je näher sie ihrem Ziel kamen. Vor einer windschiefen Hütte, umrankt von Wildkräutern und vermoosten Steinen, fanden sie die alte Frau. Ihr Gesicht war von tiefen Falten gezeichnet, ihr Blick trüb, doch in ihren Augen funkelte noch immer eine unermüdliche Aufmerksamkeit.
Eirik versuchte, auch wenn es für einen Thorwaler ungewöhnlich war, der betagten Dame mit einer extra Portion Höflichkeit die benötigten Informationen zu entlocken. Doch sein Versuch endete in einer Farce. Die alte Frau, mit einem Gehör wie ein Sieb, verstand ihn jedes Mal falsch, ließ sich von seiner Ungeduld nicht beirren und schien obendrein einen Spaß daran zu haben, ihn absichtlich zu verwirren.
Eirik verlor mehr und mehr die Beherrschung, seine Worte wurden lauter, seine Gestik hektischer, während die alte Frau ihn mit einem schiefen Lächeln bedachte und ihm schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, den Rücken kehrte.
Thronde trat gelassen vor, sprach ruhig und deutlich, mit einer fast schon bewundernswerten Geduld. Und tatsächlich – nach einigen wohlgesetzten Worten und einem freundlichen Lächeln rückte die alte Frau mit einer entscheidenden Information heraus: Eine Richtung, in die sie etwas Eigenartiges gesehen hatte.
Eirik war unterdessen einem Wutausbruch nahe, knurrte missmutig, während Asgrim ihm nur mit einem klopfenden Handschlag auf die Schulter zu verstehen gab, es hinzunehmen.
Den neuen Hinweisen folgend, wanderten sie weiter hinaus in die Wildnis. Der Weg wurde schmaler, das Unterholz dichter.
Schließlich stießen sie auf eine Lichtung, umgeben von großen, verwitterten Steinen. Ihre Oberflächen waren mit seltsamen Symbolen bemalt, die in dunkler, getrockneter Flüssigkeit schimmerten. In der Mitte des Kreises, auf kargem Boden, war eine ähnliche Verzierung zu finden.
In der Nähe des Steinkreises machten die Adleraugen der Gefährten eine kleine Stoffpuppe aus – ein eindeutiges Zeichen für die Anwesenheit des Kindes.
Von dort aus erblickten sie in der Ferne den dunklen Schlund einer Höhle, verborgen zwischen Wurzeln und herabhängendem Gezweig. Ohne zu zögern betraten sie die Tiefe, ihre Laterne und Fackeln warfen zuckende Schatten auf die feuchten Wände. Der schmale Gang führte sie an eine Gabelung, aus einer Richtung drang das flackernde Licht eines Feuers. Gedämpfte Stimmen hallten durch die steinernen Wände.
Eirik legte seine Fackel beiseite und schlich sich lautlos an das Licht heran. Zwei in dunkle Roben gehüllte Gestalten standen an einem Altar, ihre Hände fest um rituelle Messer geschlossen. Auf der steinernen Platte lag eine reglose Gestalt, klein und verletzlich – das Kind?
Eirik kehrte zurück, berichtete seinen Kameraden. Nach kurzer Beratung entschieden sie sich gegen eine heimliche Vorgehensweise. Sie waren Thorwaler. Sie kamen nicht aus dem Schatten, sie brachen mit Feuer und Stahl durch die Finsternis.
Mit Gebrüll stürmten sie in den Raum. Asgrims wuchtiger Zweihandhammer sauste nieder, doch die Okkultisten wichen geschickt aus. Eiriks Klinge fand zwar ihr Ziel, doch seine Schlitze fügten ihnen nur oberflächliche Wunden zu. Thronde jedoch, mit seiner Orknase, bewies Treffsicherheit und riss eine der Gestalten mit einem wuchtigen Schlag zu Boden. Der zweite Okkultist hatte kaum Zeit, sich zu wehren, bevor Eiriks Wurfmesser ihn traf und Asgrims Hammer den Rest erledigte.
Gezeichnet vom Kampf traten sie an den Altar. Das Kind lebte, bewusstlos, aber unversehrt. Neben ihm lag eine verzierte Phiole mit unbekanntem Inhalt. Neugierig entkorkte Eirik die Flasche, schnupperte an der düsteren Substanz. Sein Blick verschwamm, seine Knie gaben fast nach, doch er fing sich wieder. Ohne weiter zu zögern schleuderte er das Gefäß gegen die Höhlenwand, wo es mit einem lauten Klirren zerbrach.
Asgrim hob das Kind auf, trug es vorsichtig auf seinen starken Armen. Sie verließen die Höhle, bahnten sich ihren Weg zurück nach Fjallhavn.
Am Waldrand erwarteten die Dorfbewohner sie bereits. Als sie das Kind erblickten, brach ein Jubelsturm los. Die Mutter stürmte ihnen entgegen, ihre Tränen der Erleichterung glitzerten im Sonnenlicht.
Die Feier dauerte bis tief in die Nacht. Während Asgrim und Thronde sich zurückhielten und sich stärkten, ergriff Eirik die Gelegenheit, wie bereits am Vorabend auf der Tafel stehend seine Heldensagen auszubreiten.
Die Menge lauschte gebannt, ob aus Bewunderung oder Erheiterung war unklar.
Wie viel Wahrheit in seinen Worten lag, wussten wohl nur die Götter.
Als die ersten Lichter der Abenddämmerung den Himmel verfärbten, traf ein reisender Händler ein.
Er trat an die beiden rastenden Thorwaler heran, bot ihnen ein mündliches Abkommen: der Schutz seiner Waren gegen eine anständige Bezahlung.
Nach harten Verhandlungen kam man überein. Die Helden packten ihre Sachen und luden sie am nächsten Morgen auf den Wagen, ahnungslos, wohin diese Reise sie führen würde.
Während der Wagen rumpelnd über den unebenen Waldweg zog, bemerkte Asgrim als Erster den riesigen Schatten, der lautlos über die Baumwipfel glitt.
Ein gewaltiges Wesen durchbrach die Wolkendecke, flog in einer weiten Bahn über die Kolonne hinweg und verschwand schließlich wieder hinter dem Blätterdach.
Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Selbst die Pferde schnaubten unruhig, als wäre ihnen die Bedrohung bewusst, die für einen Augenblick am Himmel zu sehen war.
Erst als der Schatten gänzlich verschwunden war, entspannte sich die angespannte Haltung der Reisenden allmählich.
Doch während die Anderen den Blick wieder nach vorn richteten, wandte sich Eirik mit entschlossener Miene an den Händler.
Ohne auch nur einen Moment zu zögern, machte er ihm klar, dass eine Nachverhandlung des Preises unausweichlich sei…